Am 23. Dezember 1987 kam Simnako in Halabja zur Welt. Neun Monate zuvor wurde Kulkani, das Dorf seiner Eltern, durch irakisches Militär zerstört und sie zogen nach Halabja. Gerade dreieinhalb Monate alt, überlebte das Baby Simnako den Giftgasangriff auf Halabja am 16. März 1988. Zwei Tage später, am 18. März 1988, wurde das im Haus seiner Eltern allein liegende, schreiende Kind von iranischen Soldaten gefunden und in ein Krankenhaus im iranischen Mashhad gebracht.
Simnako wurde von Kubra Hamidpur, einer Betreuerin der Kinderabteilung des Krankenhauses, und ihrem Mann adoptiert. Sie hatte bereits zwei leibliche Söhne. Simnako erhielt den Namen Ali. Ali wurde schiitisch und in persischer Sprache erzogen. Als er etwa sechs Jahre alt war, erzählte ihm seine Adoptivmutter von seiner Herkunft aus Halabja und dem Giftgasanschlag. Nachdem seine iranischen Adoptiveltern 2007 bei einem Autounfall ums Leben kamen und seine beiden Adoptivbrüder bereits verheiratet waren, beschloss Ali nach seiner kurdischen Herkunftsfamilie zu suchen. Über ihr Schicksal hatte er keine Informationen. Durch zufällige Kontakte erfuhr er von einer kurdischen Institution in Teheran, die sich mit der Suche nach den im Iran vermissten Opfern von Halabja befasst.
Nach 21 Jahren kehrte Ali aus dem Iran nach Kurdistan / Irak, in seine Geburtsstadt Halabja zurück, in der Hoffnung, dort seine Familie zu finden. Seine Rückkehr 2009 wird zum Medienereignis. Durch einen DNA-Test wird unter den fünf Familien, die in Frage kommen, Fatima als seine leibliche Mutter und Ali als der zuvor für tot erklärte Simnako verifiziert.
Ali-Simnako und seine Mutter sind die einzigen Überlebenden seiner Familie. Sein Vater, seine Schwester und seine vier Brüder sind durch den Giftgasangriff ums Leben gekommen.
Jetzt lebt Ali-Simnako bei seiner Mutter, seinem Stiefvater und zwei jüngeren Halbbrüdern in Silemani (Kurdistan / Irak), wo er einen Studienplatz an einer amerikanischen Universität bekommen hat. Auch wenn die Bewohner Halabjas Ali-Simnako als "Sohn der Stadt" herzlich empfangen und er stolz darauf ist, ist seine Integration in die Gesellschaft seiner Herkunft nicht leicht. Der junge Mann ist als Schiit in Mashhad, einer größeren Stadt im Iran, aufgewachsen. Nun lebt er unter sunnitischen Kurden. Kurdisch, die Sprache seiner wiedergefundenen Mutter, ist für ihn eine Fremdsprache, die er erst jetzt als Erwachsener mühsam lernt.
Zu den fünf Familien, die sich mit der Hoffnung trugen, dass Ali ihr vermisstes Kind ist, gehört auch die Familie des Grundschullehrers und Künstlers Fakhradin Haji Salim, bekannt als Mamosta (Lehrer) Fakhradin. Er ist 1949 in Tuela bei Halabja geboren. 1970 erhielt er sein Lehrerdiplom. Dann kämpfte er einige Jahre als Peshmerga (kurdischer Befreiungskämpfer) im Befreiungskampf Barzanis, der 1975 vom irakischen Militär niedergeschlagen wurde. Nachdem auch sein Dorf zerstört wurde, ist er 1979 mit seiner Familie nach Halabja gezogen und dort Lehrer geworden.
Mamosta Fakhradin hat den Giftgasangriff auf Halabja überlebt. Im Chaos der Flucht versuchte er, seine Familie zu retten. Mit seiner Frau und zwei Töchtern wurde er am Abend des 18. März 1988 von Iranern mit dem Auto in ein iranisches Krankenhaus gebracht. Direkt nachdem er aus dem iranischen Krankenhaus nach Halabja zurückkehrte, wurde er in die irakische Armee zwangsrekrutiert. Seine Mutter und fünf von sieben Kindern hat er durch den Giftgasangriff verloren. Drei davon (die Töchter Hewrin, Nijin und der Sohn Senger) sind umgekommen. Er hat sie so beerdigt, wie sie waren — als Beweis für das Massaker. Zwei Kinder, die älteste Tochter Ajin und der siebenmonatige Säugling Renj, sind bis heute im Iran vermisst. Als Fakhradin aus dem Krankenhaus kam, wurde ihm gesagt, die beiden Kinder seien in Teheran. Seitdem sucht er sie. Er hat sie nie für tot erklären lassen, um die Hoffnung auf ihre Rückkehr aufrechtzuhalten. Zwei Töchter haben den Giftgasanschlag überlebt. Eine ist heute Lehrerin, eine andere, Tara, ist nach dem Studium mit ihrem Mann nach Deutschland ausgewandert. Nach dem Giftgasangriff hat die Familie noch vier Kinder, drei Jungs und ein Mädchen, bekommen: Bawer (16), Renj (18), Ajin (19), Ahang (20). Insgesamt haben sie jetzt sechs Kinder.
Mamosta hat zwei der nach der Katastrophe geborene Kinder nach seinen vermissten Kindern Ajin und Renj benannt, um die Erinnerung an sie wachzuhalten. Sie werden erst umbenannt, wenn ihre vermissten Geschwister heimkehren. Er ließ sich als Lehrer in die Schule versetzen, in die drei seiner Kinder gegangen sind. Außerdem begann er, die Bilder der Opfer in Holz aus den Türen der Opfer zu schnitzen. Holz, Erde und Steine, die stummen Zeugen der Todesqualen, verarbeitet er zu Bildern und Skulpturen, um den Opfern nah zu sein, mit ihnen zu leben.
Mamosta Fakhradin hat auf der Suche nach den verlorenen Kindern Halabjas keine Mühe gescheut. Auf Vorschlag des irakischen Präsidenten Jalal Talabani gründete er einen Verein für die verschwundenen Kinder, um die Politiker aufdieses Problem aufmerksam zu machen und das Leid zu beenden. Er sammelte und registrierte die Namen der verschwundenen Kinder. Manche von ihnen sind wie Ali zurückgekehrt, manche noch nicht. Die Anzahl der heute noch vermissten Kinder schätzt er auf 300 bis 400. Die ehemalige Ministerin für die Opfer der Massendeportationen, Cinar Saad, hat er dreimal getroffen. Sie versprach, nach den Kindern zu suchen. Als sie Ali von der Reise in den Iran mitbrachte, hat Fakhradin ihn sofort besucht, auch in der Hoffnung, er könnte sein vermisster Sohn Renj sein.
Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Doch nachdem Ali durch den DNA-Test als der für tot erklärte Simnako identifiziert wurde, war Fakhradin so tief bewegt, als wäre sein eigenes Kind heimgekehrt. Er konnte Simnakos Namen von seiner Liste der Opfer streichen. Doch bleibt die schmerzliche Sehnsucht nach den eigenen Kindern. Zu Kindern hat Fakhradin ein besonderes Verhältnis. Er möchte die Kinder gut verstehen, ihnen als Lehrer das Geschehene und seine Hintergründe vermitteln und ihnen durch Bildung zu einer besseren Zukunft verhelfen.
Wezira Mihemed (Mitte 50) musste sich schon oft mit ihrer Familie vor Bomben und Napalm im Keller ihres Hauses in Halabja in Sicherheit bringen. Doch von Giftgas Wezira Mihemedwusste sie bis zur Katastrophe vom 16. März 1988 nichts. Nachdem sie während des Angriffs selbst Atemprobleme hatte und nahezu erblindete, versuchte sie mit ihren sieben Kindern zu fliehen und sie vor dem Giftgas zu schützen. An das Geschehen erinnert sich die Wezira Mihemed nur unter seelischen Schmerzen und ihr kommen die Tränen. Auch körperlich leidet sie bis heute an den Folgeschäden des Giftgases. Sie leidet an Brust- und Atembeschwerden, auch ihr Geruchssinn und ihre Stimmbänder sind beschädigt.
Dadurch hat sie eine heisere Stimme. Sie nimmt Medikamente und darf nicht lange sprechen. Doch am meisten lastet auf ihr, dass sie durch ihre stundenlange Ohnmacht nicht in der Lage war, auf ihre Kinder aufzupassen, und sie dadurch verloren hat. Wäre sie bei Bewusstsein gewesen, hätte sie ihr Baby nicht aus den Armen gegeben.
Dass ihr Mann Fakhradin seine Kunst den Opfern des Giftgasanschlags widmet, tut ihr selbst gut.
Nachdem ihr Dorf Kulkani durch irakisches Militär zerstört wurde, zog Fatima mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihren vier Söhnen in die nahegelegene Kleinstadt Halabja. Neun Monate später gebar sie dort am 23.12.1987 einen weiteren Sohn, Simnako.
Während des Giftgasangriffs auf Halabja hat sie ihr dreimonatiges Baby Simnako in ein Tuch gewickelt und wollte dann auch einen seiner Brüder retten. Dabei wurde sie ohnmächtig. Als sie erwachte, befand sie sich allein in einem Krankenhaus in der Stadt Kirmanshah, im Iran.
Fatima hat durch den Giftgasanschlag auf Halabja ihren Ehemann und ihre Kinder verloren. Nur ihr Baby Simnako lag im Krankenhaus von Mashhad (Iran), wovon sie aber nichts ahnte. Nach ihrer Rückkehr aus dem Iran zog sie zu Verwandten nach Silemani (Kurdistan-Irak). Da Fatima durch den Giftgasanschlag und den Verlust ihrer Familie traumatisiert ist, mag sie Halabja bis heute nicht. Später heiratete sie in Silemani erneut und brachte nochmals zwei Söhne zur Welt. Von ihrem Säugling Simnako hat sie damals keine Überreste gefunden und wusste nichts über seinen Verbleib. Deshalb ließ sie ihn für tot erklären. Sein Name stand zwischen denen seiner Geschwister und seines Vaters auf einem Opferfriedhof in Halabja.
Als die Rückkehr Alis nach Kurdistan bekannt wurde, kam auch sie für den DNA-Test in Frage, da sie den Leichnam ihres Babys nie gefunden hat und das für Ali geschätzte Alter in etwa dem ihres Kindes entsprach. In ihr wuchs instinktiv die Hoffnung, dass Ali ihr totgeglaubtes Baby ist. Fatimas Hoffnung erfüllte sich, als das Ergebnis des DNA-Tests verkündet wurde: Ali ist ihr verlorener Sohn Simnako. Sie ist von ihren Gefühlen überwältigt. Der iranischen Familie, die ihren damals verlorenen Säugling wie ein eigenes Kind an ihrer Stelle großgezogen hat, ist sie sehr dankbar. Ihr unerwartet wiedergefundener Sohn lebt jetzt bei ihr in Silemani und ihrer neuen Familie.
Omed wurde 1973 in Halabja geboren. Bereits 1974, als er ein Jahr alt war, wurde die Stadt von der irakischen Armee mit Napalm bombardiert, wobei seine Mutter und seine Schwester umkamen und er selbst als Baby verletzt wurde.
Als Saddam Hussein die Stadt am 16. März 1988 von der Landkarte radieren wollte, war Omed 14 Jahre alt, der Älteste in seiner Familie, denn sein Vater war von der irakischen Armee zwangsrekrutiert worden. Er wollte mit seiner Familie die Stadt auf einem Pickup verlassen, nach ein paar Metern aber erstickten fast alle. Unter vielen Toten lag Omed auf dem Pickup und konnte nichts mehr sehen, aber er hörte hilflos den Todesschrei jedes einzelnen Familienmitgliedes. Nach zwei Tagen ohne Wasser, ohne Nahrung, zu Tode erschöpft, wurden er und drei seiner Freunde von Rettungsmannschaften mit einem Hubschrauber nach Teheran ins Krankenhaus gebracht, wo er über einen Monat blieb. An die 40 Personen aus Omeds Familie sind umgekommen.
Heute arbeitet Omed in der Halabja-Gedenkstätte, um den Besuchern die Katastrophe der Stadt Halabja durch Dokumente und Bilder näher zu bringen, die alle eine eigene Geschichte erzählen. Ein Video zeigt ihn selbst in einer Reportage direkt nach der Katastrophe: ein verschreckter Junge, erblindet, eingehüllt in ein Leichentuch in einem Teheraner Krankenhaus. Ein anderes Bild zeigt den Pickup, aus dem er geborgen wurde. Das Leben vor der Katstrophe in der Stadt Halabja, die einmal als Stadt der Dichter bekannt war, erscheint in Omeds Kindheitserinnerung als unbeschwert, einfach und schön. Die Zerstörung nennt er "Saddams Geschenk an sein Volk".
Während des Giftgasangriffs auf Halabja war Alwan eine achtjährige Grundschülerin. An die Flucht vor dem Gas erinnert sie sich wie an einen Alptraum. Mit 35 anderen Menschen floh sie in einem Fahrzeug bis an den Stadtrand. Fast alle erstickten. Alwan lag unter ihnen und hatte keine Kraft um Hilfe zu schreien. Drei Tage später, als die Peshmerga (Widerstandskämpfer) die Leichen begraben wollten, entdeckten sie, dass das Mädchen noch lebte. Man brachte Alwan mit einem Flugzeug in ein Teheraner Krankenhaus, wo sie drei Monate blieb.
Eine Schwester und ein Bruder haben überlebt. Der jüngste Bruder ist bis heute vermisst. Alle anderen Familienmitglieder sind gestorben. Die Katastrophe hat Alwan ihrer Kindheit beraubt. Sie hatte plötzlich die Verantwortung einer Erwachsenen für sich selbst zu tragen und wie eine Mutter ihre beiden jüngeren Geschwister großzuziehen. Deshalb konnte sie die Schule nicht beenden.
Heute arbeitet sie als vertraute Sekretärin des Collegedirektors in Halabja. Sie ist verheiratet und ihre Schwester lebt noch bei ihr. Der Bruder ist nach England ausgewandert.
Als Ali zurückgekehrt ist, bemerkte sie eine große Ähnlichkeit zwischen ihrem noch lebenden Bruder und den Fotos von Ali. So wurde auch ihre Familie für den DNA-Test in Betracht gezogen. Bald erfuhr sie jedoch durch Alis Adoptivfamilie, dass er zum Zeitpunkt der Adoption nach ärztlicher Einschätzung ca. 40 Tage alt gewesen sei. Ihr vermisster Bruder war bei dem Gasangriff aber schon fast zwei Jahre alt. Darum war ihr schon vor Bekanntgabe der DNA-Testergebnisse klar, dass Ali nicht ihr vermisster Bruder sein konnte, aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben.
Sie würde alles geben, um ihren vermissten Bruder oder sein Grab zu finden, so wie sie auch das Grab ihrer Eltern in Teheran gefunden und besucht hat.
Die junge Frau wirkt mitgenommen. Trost und Mut findet Alwan in Fotos von ihrem Vater und sich selbst aus den Tagen der Katastrophe sowie in einem Bild von Omar Xawir ( Symbol von Halabja).
|||||||||| nach oben