Ali besucht den Friedhof von Halabja, im kurdischen Norden des Irak, und bleibt an einem Grabstein stehen. Es ist sein eigenes Grab.
Durch ein Giftgasbombardement Saddam Husseins 1988 auf Halabja, eine Stadt im eigenen Land, verloren 5.000 irakische Kurden ihr Leben, vor allem Frauen und Kinder. Dieser Giftgasangriff auf Halabja war Höhepunkt der «Al-Anfal»-Offensive, einer von Saddam Husseins Baath-Regime betriebenen «ethnischen Säuberung». Die Überlebenden wurden von Rettungsmannschaften in iranische Krankenhäuser gebracht. Im Chaos und in der Panik der Flucht wurden viele Kinder von ihren Familien getrennt. Bis heute werden bis zu 400 Kinder im Iran vermisst. Ali ist eines dieser verlorenen Kinder. Sein Name wurde erst vor Kurzem von dem Grabstein gestrichen.
Nach 21 Jahren kehrt Ali aus dem Iran in seine Geburtsstadt Halabja im irakischen Teil Kurdistans zurück, um seine Familie zu suchen. Fünf Familien hoffen, in ihm ihren verlorenen Sohn zu finden. Ali begegnet Menschen, die ihm von ihrem ganz persönlichen Schicksal nach dem Giftgasangriff erzählen, das mit seinem eng verwoben ist. Einer von ihnen ist der Grundschullehrer und Künstler Fakhradin, der bei Saddam Husseins Giftgasanschlag fünf seiner sieben Kindern verloren hat. Zwei davon sind bis heute im Iran vermisst. Er widmet sein Leben der Suche nach Halabjas verlorenen Kindern.
Ist Ali der vermisste Sohn Mamosta Fakhradins?
Ausgehend von Alis Besuch seines eigenen Grabes erzählen Ali als heimkehrendes Kind und Mamosta Fakhradin als suchender Vater ihre Geschichte parallel. Die Berichte und Schicksale weiterer Betroffener machen die Geschichten von Ali und Mamosta Fakhradin greifbarer und ergänzen sie. Einige, wie die junge Frau Alwan, stehen direkt mit Ali in Verbindung, weil sie sich zum Beispiel als mögliche Familienmitglieder Alis einem DNA-Test unterzogen haben. Andere, wie Omed, sind Menschen, die während der Katastrophe ähnliches durchgemacht haben wie Ali und Mamosta Fakhradin.
Die Menschen aus Halabja sprechen für sich selbst und erklären ― ohne eingreifende Kommentare ― das Ereignis und seine Folgen aus ihrer persönlichen Betroffenheit heraus. So löst sich die in den zwei Erzählsträngen aufgebaute Spannung nach und nach zu einem zusammenhängenden Gesamtbild auf.
Als uns die Nachricht von Saddam Husseins Giftgasmassaker vom 16. März 1988 an den Menschen von Halabja, im kurdischen Norden des Irak, erreichte, lebte ich als 15-Jähriger im syrischen Teil Kurdistans, nur einige 100 Kilometer vom Ort der Katastrophe entfernt. Wie im Irak unter Saddam Hussein leiden auch die Menschen in Syrien unter der arabisch-nationalistischen Baath-Diktatur. Wir Kurden in Syrien, im Iran, im Irak und in der Türkei sind mit der Realität von Verfolgung und Krieg aufgewachsen. Doch dieser Giftgasanschlag sprengte alle Dimensionen: Eine ganze Stadt sollte ausgelöscht werden. Wir waren fassungslos. Angst machte sich breit: Wird es auch uns treffen? Einige Erwachsene versuchten sogar, die Fenster und Türen der Häuser abzudichten. Angesichts dieses neuen Ausmaßes des Krieges gegen uns Kurden erfüllte mich Entsetzen, als sich im gesamten Nahen und Mittleren Osten ein Teppich des Schweigens über dieses Ereignis legte. Meine Betroffenheit von damals lässt mich bis heute nicht los.
Das erste Mal kam ich 2004 nach Halabja, als ich an Dreharbeiten für einen Schweizer TV-Dokumentarfilm beteiligt war. In Gesprächen mit Menschen vor Ort erhielt ich ein Bild von ihrer Situation. Durch Begegnungen und Freundschaften die 2007 während meiner Beteiligung an Dreharbeiten für einen Spielfilm entstanden lernte ich das ungeheure Ausmaß des Leidens vieler Überlebenden kennen. So entstand die Idee zu einem Film über die menschliche Dimension dieser Katastrophe. Die Nachrichten von Alis Rückkehr nach Halabja veranlassten mich, das Schicksal der vermissten Kinder und ihrer Angehörigen nach der Katastrophe emotional greifbar zu machen.
Deshalb habe ich die Protagonisten des Films so ausgewählt, dass ihre Geschichten jeweils unterschiedliche Perspektiven der Betroffenen vor Ort verdeutlichen. Im Focus stehen Ali-Simnako als verlorenes und wieder heimkehrendes Kind und der Lehrer und Künstler Mamosta Fakhradin als Vater zweier vermisster Kinder, der sich für die Rückkehr der verschwundenen Kinder Halabjas engagiert und gehofft hat, dass Ali sein verlorener Sohn Ranj ist. Dabei war es mir wichtig, die Protagonisten in ihrem alltäglichen Umfeld zu zeigen: in Halabja und Umgebung, auf den Friedhöfen der Opfer und in der Gedenkstätte, in den Straßen und auf dem Markt, in ihren Häusern, in der Schule, in der Mamosta Fakhradin unterrichtet. Einige Aufnahmen wurden in Silêmanî (Kurdistan-Irak) gemacht, wo Ali jetzt mit seiner Mutter Fatima lebt.
Ich will mit meinem Film auch Fragen aufwerfen: Inwieweit hat die Katastrophe das Leben und Handeln verschiedene Generation geprägt? Warum wird ein Giftgasanschlag auf Zivilisten von diesem Ausmaß und ideologischen Hintergrund nicht international als Genozid anerkannt? Inwieweit sind wir durch das Zulassen solcher Leiden anderer Menschen verantwortlich für gesellschaftliche Entwicklungen?
Am 16. März 1988 bombardierte das irakische Baath-Regime unter Saddam Hussein die im eigenen Land, an der Grenze zum Iran gelegene, kurdische Stadt Halabja mit Giftgas. Dieser Anschlag auf Halabja gilt als das größte Giftgasmassaker an Zivilisten seit dem II. Weltkrieg. Er war Höhepunkt des von März 1987 bis September 1988 zur «ethnischen Säuberung» durchgeführten, «Al Anfal» genannten Feldzuges des arabisch-nationalistischen Baath-Regimes gegen die im Norden des Irak lebenden Kurden. «Al Anfal» ist der Name einer Koransure, denn obwohl Saddam ein arabischer Sunnit war, also der gleichen Religion angehörte wie circa 97% der Kurden, führte er diese «ethnische Säuberung» im Namen der Religion durch. Während der Anfal-Offensive wurden unzählige kurdische Dörfer mit Giftgas bombardiert und zerstört, begleitet von Massendeportationen, Massenerschießungen und Vergewaltigungen. Der Anfal-Offensive und ihren Folgen fielen insgesamt rund 182.000 Menschen zum Opfer. Von den damals 40.000 Einwohnern Halabjas kamen durch den Giftgasanschlag unmittelbar mindestens 5.000 Menschen ums Leben. Viele Tausend wurden durch das Giftgasbombardement auf Halabja verletzt und trugen schwere gesundheitliche Schäden davon oder starben an deren Folgen. Die Zahl der Todesopfer stieg in Folge auf etwa 15.000 an.
Die kleine Stadt Halabja liegt in der Provinz Silemani, in der heutigen Autonomen Region Kurdistan, im Norden des Irak, etwa 240 Kilometer von Bagdad entfernt. Etwa 15 Kilometer weiter, hinter der Bergkette, beginnt der Iran. Ihre mittlerweile 57.000 Einwohner sind hauptsächlich Sorani sprechende Kurden.
Aufgrund seiner Lage unmittelbar an der Grenze zum Iran war Halabja einer der Brennpunkte des Irak-Iran-Krieges (1979–1989), in dessen Zuge sie mehrfach sowohl von iranischer als auch irakischer Seite bombardiert worden ist. Als Symbol des kurdischen Widerstandes im Irak war Halabja ein besonderes Feindbild für Saddam Hussein. Am 15. März 1988 griff das irakische Militär die Stadt zunächst mit einfachen Bomben an, um Türen und Fenster zu zerstören und die Häuser für das Giftgas zu öffnen. Am 16. März 1988 wurde die Stadt dann mit Giftgas bombardiert, um so viele Menschen wie möglich zu töten. Das nach Äpfeln riechende Gas trieb die Menschen unter größter Atemnot zur Flucht. Viele fielen in Ohnmacht oder brachen sterbend zusammen. Chaos und Panik riss die Familien auseinander. Erst ab dem 18. März 1988 konnten Rettungsmannschaften, Journalisten und iranische Soldaten in die Stadt kommen. Sogar die Soldaten mussten angesichts der unzähligen, hilflosen, verätzten Zivilisten ― zumeist Kinder und Frauen ― weinen und konnten den Anblick kaum ertragen. Die Rettungsmannschaften brachten die Verletzten in verschiedene, schnell überfüllte Krankenhäuser im Iran. Viele starben auf dem Weg dorthin oder bald nach ihrer Ankunft. Die Menschen wachten oft erst nach einigen Tagen Ohnmacht in einem iranischen Krankenhaus auf, ungewiss, wo ihre Verwandten sind und ob sie überhaupt noch lebten. Durch das Gas erlitten viele einen temporären Gedächtnisverlust. In den Krankenhäusern gab man den Verletzten weiße Leichentücher. Wenn sie starben, wurden sie darin eingehüllt und ein Foto von ihrem Gesicht gemacht. Dann wurden sie in Massengräbern beerdigt. Diese Fotos sind die einzigen Dokumente, mit denen später ein Großteil der Todesopfer identifiziert werden konnte. Nichtsdestotrotz fehlt von vielen bis heute jegliche Spur. Noch heute sind unter den Vermissten 300–400 Kinder, von denen man nicht weiß, wie viele überlebt haben. Etliche wurden von iranischen Familien adoptiert, andere in Waisenhäusern untergebracht, einige über Hilfsorganisationen ins Ausland gebracht. Die meisten Eltern haben die Hoffnung, ihre Kinder zu finden, jedoch nicht aufgegeben.
Die beiden Hauptverantwortlichen für dieses Massaker an Zivilisten waren Saddam Hussein und sein Cousin Ali Hassan Al-Majid, genannt «Chemie-Ali», der als militärischer Oberbefehlshaber im kurdischen Gebiet den direkten Befehl für diesen Luftangriff erteilt und die gesamte Operation geplant und geleitet hat. Das nach dem Einmarsch der Alliierten 2003 aufgestellte irakische Sondergericht stufte die Massaker als Genozid ein. Nichtsdestotrotz wurde Saddam Hussein nur für ein vergleichsweise geringes Verbrechen hingerichtet. So konnte das Massaker von Halabja nicht mehr vor dem internationalen Gerichtshof als Genozid anerkannt werden. Ali Hassan Al-Majid wurde vom irakischen Sondergericht für das Massaker von Halabja, die Anfal-Operation und zwei weitere Verbrechen zum Tode verurteilt und in Bagdad hingerichtet. Der gesamte Apparat aus Mitverantwortlichen ― sprich internationale, maßgeblich deutsche Firmen und Einzelpersonen ― wurde mit Ausnahme eines holländischen Falls bis auf den heutigen Tag nicht zur Verantwortung gezogen.
Die Stadt Halabja hat sich bis heute nicht von dieser Katastrophe erholt und wird von der irakischen Regierung und internationalen Gremien ignoriert. Die kurdische Regionalregierung ist überfordert. Aufgrund des Engagements der Eltern der vermissten Kinder hat Cinar Saad, die ehemalige Ministerin für die Opfer der Massendeportationen, eine Institution gegründet, die sich eigens mit dieser Angelegenheit befasst. Die Kooperation mit den iranischen Behörden, die bei der Aufklärung über den Verbleib der Kinder Unterstützung leisten könnten, gestaltet sich jedoch aufgrund der irakisch-iranischen Animositäten schwierig: Die kurdische Regionalregierung ist trotz Autonomie Teil des irakischen Staatssystems. Angesichts der angespannten Lage im Irak hat die kurdische Regionalregierung auch nicht die Kapazität, sich mit ihrer inneren Planung zu befassen. Im heutigen irakischen Staatssystem wirken die arabisch-nationalistischen Baathisten im Verborgenen weiter und stellen noch immer eine Gefahr für die kurdische Region.
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